Bann B:  Die Blinden-Hitler-Jugend in Hannover

 Appell der Blinden-Hitler-Jugend 1938 auf dem Brunnenplatz („Pudding“ genannt) der damaligen Provinzial-Blindenanstalt in der Bleekstraße 22. Foto: Mosel, Günther, Landesbildungszentrum für Blinde (Hrsg.), 150 Jahre Blindenbildung in Hannover - Chronik, 1845-1995, Druck- und Verlagshaus Koritz.


 

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Alle Jungen und Mädchen in Blindenanstalten sollten im Geiste der Hitler-Jugend erzogen werden, so lautete ein Befehl der damaligen "Reichsjugendführung" vom 19. März 1934. Quelle: 125 Jahre Blindenbildung in Niedersachsen - Chronik, 1845-1970, Druck: Niedersächsische Landes-Versehrtenberufsfachschule Bad Pyrmont, Seiten 77 bis 78. Alle Kinder ab 10 Jahren der hannoverschen "Provinzial-Blindenanstalt" in der Bleekstraße 22 bildeten den "Bann B" und trugen einheitliche Uniformen.  Die Achselklappen wurden entfernt, die Armbinde der Hitler-Jugend musste durch die Blindenbinde (drei schwarze Punkte auf gelbem Tuch) ersetzt werden. Die Gehörgeschädigten trugen eine Armbinde mit dem Buchstaben G.

Ernst Latta (Blindenoberlehrer von 1928 - 1969) und Franz Bögge (Blindenoberlehrer von 1935 - 1943) führten den Bann B in Hannover.

Erdkunde-Unterricht in der Provizial-Blindenanstalt 1938. Foto: Privat

Jungen und Mädchen, die ihr Augenlicht infolge Krankheit oder Unfall verloren hatten - sogenannte "erbgesunde" Blinde -, galten als "menschlich vollwertig" und sollten den gleichen Dienst wie alle anderen in der Hitler-Jugend tun: Sport, Erziehung zum Antisemitismus, Heimabende, Musikpflege.

 

Die  Monatszeitschrift "Weckruf" in Blinden-(Punkt-)Schrift übermittelte z. B. Nachrichten über die Hitler-Jugend aus den Tageszeitungen. Im Sport wurde vor allem Körperbeherrschung geübt, um den fehlenden Sehsinn etwas auszugleichen. Jungen und Mädchen sollten befähigt werden, mit handwerklicher Arbeit ein "nützliches Mitglied der Volksgemeinschaft" zu werden. Sven Degenhardt/Waldtraut Rath, Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, Band 2 der "Studientexte zur Geschichte der Behindertenpädagogik", Luchterhand, Jahr 2001, Seiten 125 - 129

 

Ähnliche Grundsätze galten für gehörlose Jungen und Mädchen, die in der Hitler-Jugend im Bann G zusammengefasst wurden.

 

Angeborene Blindheit und Gehörlosigkeit fand bei den Nationalsozialisten keine Gnade. Ihr Ziel war es, die  Deutschen zu einer überlegenen „Herrenrasse“ heranzuzüchten. Um eine "Verhütung erbkranken Nachwuchses“ („Erbgesundheitsgesetz“ vom 14. Juli 1933) sicherzustellen - dass bedeutete:  angeblich „minderwertige“ Menschen sollten keine Kinder zeugen bzw. keine Kinder bekommen können -,   mussten sich diese Jungen und Mädchen in einer schmerzhaften Operation unfruchtbar machen lassen (-> Zwangs-Sterilisation). In Hannover meistens im  Krankenhaus ->Henriettenstift und im Friederikenstift.  In ganz Deutschland wurden 2400 - 2800 blinde Menschen, die als „erbblind“ galten,  zu dieser lebensgefährlichen  und schmerzhaften Operation gezwungen, Gabriel Richter: Blindheit und Eugenik - Zwischen Widerstand und Integration 1918 – 1945, Hans-Ferdinand Schulz-Verlag, Freiburg im Breisgau, ohne Erscheinungsjahr, Seite 179,

bei den gehörlosen Menschen waren es ca. 15.000! 

Helmut Vogel: Sterilisation und Euthanasie, http://www.taubwissen.de/content/index.php/geschichte/gehoerlose-in-der-zeit-des-nationalsozialismus/sterilisation-und-euthanasie/591-nazisterilisationeuthanasie.html, zuletzt aufgerufen 20.3.2021

 

 

Gebäude der ehemaligen "Provinzial-Blindenanstalt" in Bleekstraße 22, heute Landesbildungszentrum für Blinde. Davor der Brunnenplatz „Pudding“. Foto: Bernd Schwabe,  Gemeinfrei

 Am schlimmsten litten blinde oder gehörlose Kinder und Jugendliche jüdischen Glaubens. Sie wurden in Vernichtungslager deportiert z.B. nach Auschwitz - https://de.wikipedia.org/wiki/Israelitisches_Blindeninstitut und dort umgebracht. (Siehe auch Erzählungen von Orli Reichert-Wald über die Ermordung eines blinden jüdischen Mädchens in Ausschwitz im Buch von Bernd Steger und Günter Thiele  "Dunkle Schatten, Leben in Auschwitz, Erinnerungen an Orli Reichert-Wald", SP-Verlag Marburg, 1989, Seiten 108 - 112)

 

Insgesamt ermordeten die Nazis ca. 600 taube Juden. Helmut Vogel: Gehörlose Juden, http://www.taubwissen.de/content/index.php/geschichte/gehoerlose-in-der-zeit-des-nationalsozialismus/gehoerlose-juden/595-nazijuden.html, zuletzt aufgerufen am 20.3.2021)

Im Blindenmuseum des Landesbildungszentrums  für Blinde in Hannover ist ein Gedenkstein abgelegt mit der Inschrift „Wir erinnern an die jüdische Schülerin Irmgard Weinberg geb. am 16. 01. 1911. Sie besuchte unsere Schule von 1926 bis 1927. Ihre Spur verliert sich im Jahr 1939.“

 

Im Rahmen eines  Schulprojektes gelang es Schülerinnen und Schülern der Klasse BVJ/BFK-M2  zusammen mit ihrer Lehrerin und ihrem Lehrer Anfang 2006/2007, Irmgard Weinberg in Buenos Aires ausfindig zu machen. Die letzte jüdische Schülerin der Blindenschule in Hannover starb 2011 im Alter von fast 100 Jahren.

 

Nach Auskunft des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie vom April 2021 plant die Schulleitung,  die Gedenktafel Irmgard  Weinberg  im oder am Gebäude evtl. mit einer Zusatztafel anzubringen.

 

 

Steinerne Gedenktafel für das Mädchen jüdischen Glaubens Irmgard Weinberg entstanden aus einem Klassenprojekt. Die Tafel  wurde 2005 aus Spenden für ein Gemeinschaftsprojekt der Klasse BVJ/BFK-M2 finanziert. 

https://de.wikipedia.org/wiki/Landesbildungszentrum_f%C3%BCr_Blinde

Zuletzt aufgerufen am 10.3.2021. Foto: Bernd Schwabe,  Gemeinfrei